Weltmeisterschaften Juniorinnen und Junioren (20.08.21)
AUS DER "FREIEN PRESSE" (24.08.21)
Vom Krankenbett in den Medaillenhimmel
Fünf Jahre nach EM-Gold von Emilie Haase bejubelt das Erzgebirge wieder eine Edelmetall-Gewinnerin bei internationalen Titelkämpfen im Ringen. Doch das soll nicht das Ende der Fahnenstange sein.
von Jürgen Werner
THALHEIM – Die rechte Faust zuckte kurz. Das war’s. Gefühlsausbruch? Nicht mit Lilly Schneider. „Als ich später mit meinen Eltern telefoniert habe, sind die Tränen schon geflossen“, sagt die 19-Jährige als müsste sie sich dafür entschuldigen, dass dem größten Erfolg ihrer noch jungen sportlichen Laufbahn nicht sofort ein Jubelschrei auf der Matte folgte.
Mit 13:2 hatte die Thalheimerin zuvor im Halbfinale der Junioren-Weltmeisterschaft ihre polnische Kontrahentin Daniela Tkachuk – immerhin amtierende Vize-Europameisterin – förmlich deklassiert. Auch gegen Alexandra Zaitseva aus Kasachstan, zeigte die Erzgebirgerin, die in der Qualifikation ein Freilos erwischt hatte, ihre Klasse und siegte mit 6:1. Dass sie sich im Finale von der US-Amerikanerin Kennedy Alexis Blades schon in den ersten Sekunden durch einen schnellen doppelten Beinangriff überraschen ließ und so auf die Verliererstraße geriet – geschenkt. „Da hat sie sich überrumpeln lassen, konnte leider ihre Stärke und ihr Potenzial nicht zeigen. Aber sie hat nicht die Goldmedaille verloren, sondern Silber gewonnen“, sagte Landestrainer Florian Rau, bei dem Lilly Schneider in Leipzig trainiert.
Für die 19-Jährige, die noch ein Jahr bis zum Abitur hat, ist es bei ihrer fünften Teilnahme an internationalen Titelkämpfen das ersehnte erste Edelmetall geworden – bei jeweils zwei Welt- und Europameisterschaften war sie zuvor leer ausgegangen. „Ehrlich gesagt hatte ich im Vorfeld mit einer Medaille geliebäugelt. Zumal es bei den Junioren wegen meines Alters die letzte Gelegenheit war“, sagt sie. Dabei schien lange gar nicht sicher, ob die Zweikämpferin im russischen Ufa überhaupt würde an den Start gehen können. Im März riss sie sich im Trainingslager in Frankfurt/Oder ein Innenband im rechten Knie. Es folgte eine OP, verbunden mit einer dreimonatigen Trainingspause. „Als später klar war, dass ich für die WM nominiert bin, haben wir entschieden, dass wir wegen der knappen Zeit den Fokus komplett darauf legen und die EM im Juli weglassen“, sagt sie. Das hat sich nun ausgezahlt.
Die 13 deutschen Teilnehmer, drei junge Frauen und zehn junge Männer, waren in Russland gemeinsam in einem Hotel untergebracht. Lilly Schneider reiste drei Tage vor ihrem ersten Kampf an, um sich an die Umgebung zu gewöhnen. Einschlafprobleme habe sie gehabt. „Ich habe die Zeitverschiebung von drei Stunden ziemlich unterschätzt.“ Kollegen anfeuern, Training – von der Millionenstadt in der Nähe des Ural habe sie vor ihren eigenen Auftritten nichts und danach nur wenig gesehen. „Und das hat mir nicht sonderlich gefallen.“ Am Samstag ging es zurück in die Heimat, in der der RV Thalheim am Sonntag noch einen kleinen Empfang für seine Vize-Weltmeisterin gab – es ist die erste internationale Medaille für den Verein seit dem EM-Gold von Emilie Haase vor mittlerweile fünf Jahren.
Eine lange Pause gönnt sich Lilly Schneider, deren vier Brüder dem Ringkampfsport ebenfalls verbunden sind, nicht. Zwei Wochen wolle sie pausieren, dann gehe es wieder in die Halle. Einen Ligabetrieb gibt es bei den Frauen, die ausnahmslos im freien Stil ringen, nicht. Stattdessen besteht der Wettkampfbetrieb vollständig aus Turnieren – und Lilly Schneider will an so vielen wie möglich teilnehmen. Um sich vielleicht irgendwann ihren ganz großen Traum zu erfüllen – den von der Olympia-Teilnahme mit der Option auf eine Medaille. Wie man sich ins Scheinwerferlicht der internationalen Öffentlichkeit ringt, hat in Tokio jüngst Aline Rotter-Focken vorgemacht, noch dazu in derselben Gewichtsklasse (bis 76 Kilogramm). Die Fußstapfen sind groß, aber Lilly Schneider will in sie hineintreten. „Spätestens 2028 in Los Angeles“, sagt sie, „soll es soweit sein.“
Jürgen Werner, aus der "Freien Presse" Stollberg vom 24.08.2021.
Fotos: Florian Rau, Kadir Caliskan und Holger Hähnel